Aus der Isolation ins Netzwerk – Chronologie der MINT-Mütter seit 1970

verfasst von
  • Saskia Wöhler
veröffentlicht 20. Juli 2022
In den Hörsälen beguckt und ob ihrer Äußerungen belächelt – als Frau in den Naturwissenschaften war es einsam in den 1970er-Jahren. Der Wunsch, dieser Isolation zu entkommen, war groß bei den Akteurinnen und führte zu wachsenden Verbindungen.

„Ich wurde schon bestaunt, wie so ein exotisches Tier. […] [E]s hat mich keiner so richtig ernst genommen“1 , so Barbara Leyendecker. Viele Frauen waren mit ähnlichen Problemen konfrontiert: mangelnde Sichtbarkeit, Herabwürdigung oder ungleiche Bezahlung. MINT-Frauen waren aktiv in der Frauenbewegung, doch das Thema ‚Frau in Naturwissenschaft und Technik‘ existierte dort nicht. Margarete Pauls war die einzige Maschinenbauerin in einer Frauengruppe in Aachen. Gemeinsam mit Christiane Erlemann suchte sie ab 1976 bundesweit nach Mitstreiterinnen.

Frauen in Naturwissenschaft und Technik

Erlemann und Pauls organisierten in Aachen 1977 das erste Treffen von Frauen in Naturwissenschaft und Technik (FiNuT) mit zunächst rund 50 Frauen im Frauenzentrum Aachen. „Das hat uns total inspiriert. […] Es war ganz klar, dass es ein nächstes Treffen geben sollte“. 2 Gemeinsam gelangten die Frauen zur Erkenntnis: Nicht persönliche Defizite, sondern patriarchale Strukturen verursachten ihre Probleme.

Ab 1982 bis zum Ende der 80er-Jahre verbreiterte sich die Bewegung ausgehend von den jährlichen FiNut-Treffen. Das Ziel war ein kontinuierlicher regionaler und überregionaler Austausch und aktive Teilhabe in gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskussionen. Erst Gründungen von Untergruppen in Frauen- und Berufsorganisationen sowie Ausschüssen gaben den Akteurinnen die Legitimation, Gelder zu sammeln. Zudem erfüllte diese Institutionalisierung den Wunsch nach einer festen Ansprechadresse. Durch ihre Initiative entwickelte sich im Verein Deutscher Ingenieure (VDI) eine Welle von Gründungen regionaler Gruppen Frauen im Ingenieurberuf. FiNuT hingegen entwickelte sich zu einem professionellen Fachkongress.

Ingenieurinnen schließen sich zusammen

Eine Studie der Technischen Universität Berlin aus dem Jahr 1987 zeigte, dass im internationalen Vergleich „Ingenieurinnen in der Bundesrepublik Deutschland am seltensten zu finden sind“3 . Studienleiterin Doris Janshen sprach sich im VDI für eine stärkere Repräsentanz der Frauen und ihrer Themen aus. Der VDI hatte bis 1969 bereits einen Ausschuss Frauen im Ingenieurberuf (fib). Bei der Neugründung des fib 1982 waren die Ausschussmitglieder ausschließlich Frauen. Ihr Ziel war die größere Sichtbarkeit im traditionellen Verband. Hier engagierte sich später die Elektrotechnikingenieurin Jutta Saatweber, die 2017 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wurde.

Jutta Saatweber (mitte), die Moderatorin Dr. Antje Grobe und Dr.-Ing. Volker Kefer, Präsident des VDI (Verein Deutscher Ingenieure, Düsseldorf), bei der Verleihung der VDI-Ehrenmitgliedschaft.
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Jutta Saatweber (mitte), die Moderatorin Dr. Antje Grobe und Dr.-Ing. Volker Kefer, Präsident des VDI (Verein Deutscher Ingenieure, Düsseldorf), bei der Verleihung der VDI-Ehrenmitgliedschaft. Seit 1860 erhalten diese Auszeichnung Persönlichkeiten für ihr besonderes ehrenamtliches Engagement (VDInachrichten 24.5.2019).

Ebenso gründete sich im Deutschen Akademikerinnenbund 1986 der Arbeitskreis Frauen in Naturwissenschaft & Technik (FNT im DAB e.V.). In der Gesellschaft für Informatik (GI e.V.) schlossen sich die Frauen im gleichen Jahr zur Fachgruppe Frauen und Informatik (FRAUINFORM) zusammen. Zeitgleich gründete sich der deutsche Ingenieurinnenbund (dib e.V.). 1987 entstand der Ausschuss Elektroingenieurinnen im Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE e.V.). Ein Jahr später entstanden Frauen in Naturwissenschaft und Technik (NUT e.V.), mit der engsten Verbindung zum FiNuT-Kongress, sowie der Verein BAUFACHFRAU.

Bei FiNuT waren nach der Wende Frauen aus den neuen Bundesländern vertreten. Leider wirkten diese Expertinnen nicht langfristig in den bestehenden Strukturen mit.4  Ebenso gingen die Frauen aus entsprechenden Ausbildungsberufen andere Wege.5

Messestand Frau + Technik

Durch das zeitgleiche Engagement waren die Organisationen untereinander vernetzt. So engagierte sich beispielsweise die Ingenieurin Maren Heinzerling zeitweise parallel im DAB, dib, VDI und der Deutschen Maschinentechnischen Gesellschaft (DMG). Durch den Fachkräftemangel im MINT-Bereich lag es im Interesse der Wirtschaft, neue Arbeitskräfte, und zwar Mädchen, zu gewinnen.

Diese verschiedenen Interessen – Beseitigung des Fachkräftemangels und der Wunsch nach mehr Sichtbarkeit der Frauen im Beruf – mündeten 1988 im ersten Informations- und Beratungsstand Frau + Technik auf der Hannover Messe Industrie. Am Messestand waren vier Verbände beteiligt: Deutscher Akademikerinnenbund (federführend), deutscher Ingenieurinnenbund, Ausschuss Frauen im Ingenieurberuf des Vereins Deutscher Ingenieure, Arbeitskreis Elektroingenieurinnen des Verbandes Deutscher Elektrotechniker.

Der Stand benötigte zwei stabile Säulen: die finanzielle Unterstützung der Industrie sowie das ehrenamtliche Engagement der circa 50 beteiligten Frauen wie Barbara Leyendecker, die für ihr Engagement später mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Jährlich wurden rund 40.000 bis 50.000 DM eingeworben und die Frauen leisteten circa 100.000 DM unbezahlte Arbeit wie durch Schreiben der Pressemitteilungen oder der Betreuung des Standes.6

Der Messestand war das erste gemeinsame Auftreten in der Öffentlichkeit. In der Pressemitteilung hieß es: „Wir wollen Mädchen Mut machen, sich für Berufe im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich zu entscheiden, denn wir arbeiten gerne in Naturwissenschaften und Technik, und die Berufsaussichten in diesen Bereichen sind gut“.7

Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Barbara Leyendecker mit Sohn Martin
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Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Barbara Leyendecker mit Sohn Martin

Politik, Industrie und die eigentliche Zielgruppe, Schülerinnen und Ingenieurinnen, interessierten sich sehr für den Stand. Zusätzlich zu den Beratungen gab es Werbematerial, Podiumsdiskussionen und Interviews. Betont wurde die Rolle des Elternhauses und die Förderung insbesondere durch die Väter.

Die aktiven Frauen erweiterten beim zweiten Stand 1989 ihr Angebot um begleitete Messe-Führungen, um die Schwellenangst der jungen Frauen abzubauen und Gespräche zu vermitteln. In der Pressemitteilung hieß es: „Frauen machen sicher keine andere Technik oder stellen weibliche Naturgesetze auf […]‚ aber vielleicht denken Frauen manchmal konkreter und realistischer. Vielleicht sind sie auch eher bereit, das, was sie machen, zu hinterfragen“.8

 

Auch der dritte Messestand 1990 verlief erfolgreich. Die Industrie konzentrierte ihre Gelder zunehmend in Projekten in den neuen Bundesländern und die Präsenz auf der Messe endete.

Mädchen-Technik-Tage

1990 lief das Pilotprojekt der Mädchen-Technik-Tage, initiiert von Maren Heinzerling in München. Diese Kooperation zwischen neun bayrischen Unternehmen, Lehrerinnen, Studentinnen und Schülerinnen sowie den Frauenverbänden DAB, dib und fib hatte das Ziel, Mädchen für technisch-naturwissenschaftliche Studien zu gewinnen. Aus diesem erfolgreichen Pilotprojekt entstand ein Konzept9 zur Durchführung der Veranstaltung, das an verschiedene Netzwerke wie den DAB, dib, VDI und VDE verteilt wurde. Im Folgejahr gab es zehn Projekttage an unterschiedlichen Standorten und 1994 entwickelte sich die Initiative Girls’ Day.

1990 dokumentierten Karin Diegelmann und Birgit Zich in der Broschüre Frauennetzwerke und Vereine in Naturwissenschaft und Technik die Vielfalt der Frauenverbände, die, angeregt durch die Kooperation rund um den Messestand, entstanden war. 1992 gründete sich der Verein Frauen in der Technik (FiT e.V.). Aus zahlreichen Diskussionen und unterschiedlichen Arbeitsgruppen heraus formierte sich ebenfalls 1992 die WINDFANG eG, die erste FrauenEnergieGemeinschaft in Deutschland. Ein Gründungsmitglied war die Diplom-Physikerin Rosemarie Rübsamen.

Der 1999 entstandene Verein Frauen geben Technik neue Impulse e.V. führte alle Akteure zusammen und wurde zur Heimat des Girls’ Day, der 2001 das erste Mal deutschlandweit stattfand. 2005 wurde der Verein zum Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V., bei dem die Geschäftsstelle der vom Bund finanzierten Stelle Komm, mach MINT angesiedelt ist. 

2006 wurde die Arbeitsgruppe High-Tech-Strategie bei der Mitgliederversammlung des Deutschen Frauenrats gegründet. 2008 entstand die Resolution Ohne Frauen fehlt der Technik was, die alle Forderungen des Ingenieurinnennetzwerks nach Entscheidungs- und Gestaltungsteilhabe zusammenfasste.10

2008 wurden die Pionierinnen für das zukunftsweisende Projekt Frau + Technik während des Kongresses Women-Power geehrt. Hierbei zogen die selbsternannten MINT-Mütter das Resümee: „Es gibt immer noch reichlich zu tun!“11

Das gemeinsame Netzwerk wuchs durch die Standdienste und weiteren Berührungspunkte über die Grenze einzelner Organisationen hinaus.
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Das gemeinsame Netzwerk wuchs durch die Standdienste und weiteren Berührungspunkte über die Grenze einzelner Organisationen hinaus.

Über Netzwerke in die Öffentlichkeit

Mithilfe der Kongresse bildeten die Frauen ein Netzwerk, das sie in Form von Vereinen stabilisierten. Als offizielle Repräsentantinnen konnten sie Finanzierungen für Projekte realisieren und Öffentlichkeit für ihre Anliegen schaffen. Neue Kooperationen wie beispielsweise mit dem Deutschen Frauenrat trugen die Diskussionen über Technik in neue Foren.

Die Pionierinnen von »Frau+Technik« Jutta Saatweber und Maren Heinzerling im Jahr 2008 bei der Aufarbeitung von Archivmaterial.
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Die Pionierinnen von »Frau+Technik« Jutta Saatweber und Maren Heinzerling im Jahr 2008 bei der Aufarbeitung von Archivmaterial. Heute ist es ein Anliegen der MINT-Mütter, ihre Arbeit durch Digitalisierung sichtbar zu machen und Frauen zu ermutigen, sich für ihre Überzeugungen und Fähigkeiten zu engagieren.

Der Messestand Frau + Technik war das erste gemeinsame Projekt mit großer Öffentlichkeitswirkung. Die Frauen hatten nicht nur ihr eigenes Netzwerk gestärkt, sondern brachten wichtige Themen der Gleichberechtigung in den Fokus der Öffentlichkeit. Viele der Forderungen der MINT-Mütter aus den 90er-Jahren wie flexiblere Arbeitszeiten für Frauen und Männer, der Abbau geschlechtsspezifischer Berufsorientierung oder der Wert von CARE-Arbeit sind 2021 aktuell.12

Heute sind rund 34 Prozent der MINT-Studierenden im ersten Fachsemester weiblich. Zwischen 2008 und 2019 hat sich die Zahl der MINT-Studienanfängerinnen verdoppelt.13 Diese Zahlen belegen die Bedeutung des Engagements.

 

Stand: 20. Juli 2022
Lizenz (Text)
Verfasst von
Saskia Wöhler

hat transnationale Literatur und Geschichte in Freiburg und Bremen studiert. Seit 2013 arbeitet sie als freie Autorin und Redakteurin. Ihre Themen sind: Gleichberechtigung, Bildungsgerechtigkeit, CARE-Arbeit und kulturelle Traumata in der Literatur.

Empfohlene Zitierweise
Saskia Wöhler (2023): Aus der Isolation ins Netzwerk – Chronologie der MINT-Mütter seit 1970, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/chronologie-der-mint-muetter-seit-1970
Zuletzt besucht am: 11.05.2024
Lizenz: CC BY-SA 4.0
Rechteangabe
  • Saskia Wöhler
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY-SA 4.0

Fußnoten

  • 1Interview mit Barbara Leyendecker,Transkript, S. 1
  • 2Ebenda, Transkript, S.2.
  • 3Janshen, Doris / Rudolph, Hedwig: Ingenieurinnen. Untersuchung ihrer Studien- und Arbeitsbedingungen. Kurzfassung. Doris Janshen und Hedwig Rudolph, Technische Universität Berlin, 1987, S. 2.
  • 4Stein, Kira / Pauls, Margarete: Das Treffen „Frauen in Naturwissenschaft und Technik (FiNuT)“ – der Anfang der naturwissenschaftlich-technischen Frauenbewegung in (West-)Deutschland, in: Die Ingenieurin. Magazin für Frauen in technischen Berufen. MINT-Mütter. Gemeinsam Spuren hinterlassen, Nr. 129, Juli 2019, S. 7.
  • 5Ebenda, S. 6.
  • 6Leyendecker, Barbara: Frau + Technik – Die Alternative der Zukunft. Stand auf der Hannover Messe Industrie 1988, 1989 und 1990, in: Die Ingenieurin. Magazin für Frauen in technischen Berufen. MINT-Mütter. Gemeinsam Spuren hinterlassen, Nr. 129, Juli 2019, S. 11.
  • 7Pressemitteilung zum ersten Messestand, Zugriff am 20.07.2022 unter https://frauundtechnik.de/1988%20HM/Presse%201988/index.html.
  • 8Pressemitteilung zur Pressekonferenz, Zugriff am 10.9.2021 unter https://frauundtechnik.de/1989%20HM/Presse%201989/index.html.
  • 9Heinzerling, Maren: 1. Münchner – Mädchen – Technik – Tag. Dokumentation als Leitfaden zur Vorbereitung von Mädchen - Technik – Tagen, 1990.
  • 10Deutscher Frauenrat: Ohne Frauen fehlt der Technik was, Zugriff am 20.07.2022 unter https://www.frauenrat.de/wp-content/uploads/2017/05/2_081110_Resolution_Technik_mit-Logo.pdf.
  • 11Leyendecker: Frau + Technik – Die Alternative der Zukunft, S. 12.
  • 12Vgl. Saatweber, Jutta (Hg.): Frau + Technik: Forderungskatalog zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Caro Druck, 1990.
  • 13Quelle: https://www.komm-mach-mint.de/service/mint-datentool, Zugriff: 20.07.2022.

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