Kampf für den Erhalt des ‚Henriette-Goldschmidt-Hauses‘ (1993‒2000)

verfasst von
  • Laura Peter
veröffentlicht 15. April 2024
In den 1990er Jahren kämpfte ein feministisches Aktionsbündnis für den Erhalt des ‚Henriette-Goldschmidt-Hauses‘ in Leipzig. Das Haus symbolisierte gerade in der Nachwendegesellschaft einen historischen Ort der Frauenemanzipation, der Gleichberechtigung, Erwerbstätigkeit und finanziellen Unabhängigkeit.

Geschichte des ‚Henriette-Goldschmidt-Hauses‘

Henriette Goldschmidt, geboren am 23. November 1825 in Krotoszyn/Posen, Frau des Rabbiners Abraham Goldschmidt, zog 1858 mit ihrem Mann von Warschau nach Leipzig. Hier gehörte sie mit Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt zu den Gründerinnen der organisierten Frauenbewegung, deren Bestreben es war, Frauen durch Bildung und Erwerbstätigkeit Unabhängigkeit zu ermöglichen. Goldschmidt trieb die Ausbildung von Frauen als Erzieherinnen voran, eröffnete 1911 die erste Hochschule für Frauen und initiierte mehrere Volkskindergärten.1 1889 erwarb der von ihr mitgegründete Verein für Familien- und Volkserziehung sein Vereinshaus in der späteren Friedrich-Ebert-Straße 16. Hier wurden ein Kindergarten und Ausbildungsräume eingerichtet. Im vierten Stock lebte Henriette Goldschmidt bis zu ihrem Tod am 30. Januar 1920. Ein Jahr später, 1921, wurde dem Haus der Name ‚Henriette-Goldschmidt-Haus‘ verliehen.2 Im gleichen Jahr übergab Henri Hinrichsen, ein Unterstützer Goldschmidts‘ das Haus als Teil einer Stiftung treuhänderisch der Stadt Leipzig, mit dem Zweck, dass das Stiftungsvermögen der Frauenbildung dienen solle. 3

Im Nationalsozialismus wurde Hinrichsen als Jude verfolgt und am 17. September 1942 in Auschwitz ermordet.4 Die Nationalsozialisten benannten seine Stiftung um und versuchten auch das Haus dem Vergessen anheimfallen zu lassen, indem sie die über dem Torbogen angebrachten Lettern ‚Henriette-Goldschmidt-Haus‘ entfernten.5 In der DDR wurde das Haus ab 1947 wieder als Kindergarten und Ausbildungsstätte genutzt. Die Stiftung ging 1948, auf Weisung der sächsischen Landesregierung, in eine Sammelstiftung über.6 1957 beschloss der Rat der Stadt Leipzig, dem Haus seinen Namen zurückzugeben und die Lettern wieder anzubringen.7 Ab Anfang der 1980er-Jahre stand das Haus jedoch leer und verfiel zusehends. Im Jahr 1990 wurde es unter Denkmalschutz gestellt.8

Hausansicht Henriette-Goldschmidt-Haus, 1999

„Verkauft ist verkauft“

Am 15. September 1993 debattierte die Leipziger Stadtverordnetenversammlung über den Verkauf eines Hauses in der Friedrich-Ebert-Straße. Bereits eine Woche zuvor waren durch einen Artikel in der Leipziger Volkszeitung Einzelheiten bekannt geworden: So war das Gebäude im März 1991 vom Stadtkämmerer Peter Kaminski verkauft worden. Die Käuferin, eine Angestellte im Rathaus, hatte 38.000 DM für das Gebäude bezahlt9 und es 1993 für 1.200.000 DM weiterverkauft.10

Bekannt wurde der Verkauf über den Antrag des Gleichstellungsausschusses im Juli 1993, das Haus wieder als Vereinshaus zu nutzen.11 In der Debatte um die Konsequenzen des Verkaufs stand die Position der Antragstellerin der Position von Oberbürgermeister Dr. Hinrich Lehmann-Grube gegenüber, der den Fall mit den Worten „Verkauft ist verkauft!“12 abschließen wollte. 1995 wurden Pläne, die Friedrich-Ebert-Straße zu verbreitern, wofür das ‚Henriette-Goldschmidt-Haus‘ abgerissen werden musste, öffentlich.13 Im Jahr 1999 entschied der Stadtrat, nun unter Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, endgültig den Abriss.14 Auf einer dahinterliegenden Fläche sollte ein Neubau zumindest mit Teilen der historischen Fassade entstehen.15

Protest gegen den Abriss und Ideen zur Nutzung

Im Anschluss an die Stadtratssitzung vom 15. September 1993 formierte sich Protest. Zunächst wandten sich Vertreterinnen aus dem Umfeld der Fraueninitiative Leipzig über die Frauenblätter an die Öffentlichkeit. In der Argumentation für den Erhalt des Hauses hoben sie seine besondere, mit der Frauenbewegung in Leipzig verbundene Geschichte hervor. So schrieb zum Beispiel Petra Seyde 1993: „Verloren erscheint nicht nur das Haus für Vereine und Frauen, sinnlose wirtschaftliche Vorteile erhielten erneut den Vorrang vor wirklich drängenden sozialen Aufgaben. Damit wurde das, was eine Generation von bewundernswerten LeipzigerInnen für uns als Erbe hinterlassen hat, unbedacht ausgeschlagen.“16

Marion Ziegler, damals Abgeordnete des Unabhängigen Frauenverbands e.V., kritisierte, dass „Grundstücke, Häuser und Wohnungen [...] zu Spekulationsobjekten [werden]. Statt zum Nutzen und zum Gebrauch für alle, dienen sie nur noch den Gewinninteressen weniger“17 , und beklagte, dass die klare Bindung für frauenpolitische Zwecke beim Verkauf missachtet worden war.18

Petra Seyde: ...Und das Haus...?, 1993
Marion Ziergler: Wem hat das öffentliche Eigentum zu dienen?, 1993

Ebenfalls im Herbst 1993 wandte sich ein FrauenAktionsBündnis über eine Presseerklärung in den Frauenblättern an die Öffentlichkeit, in der es Aufklärung über den Verkauf forderte.19 Der Protest formierte sich nun zunehmend innerhalb der Leipziger Frauenvereine. Aus den Reihen der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. (LOPG) wurden vermehrt Mitglieder aktiv, unter ihnen Johanna Ludwig, Annerose Kemp, Prof. Dr. Godula Kosack und Waltraud Hering. Der Protest gegen den aufgrund der besonderen Historie des Hauses als widerrechtlich empfundenen Verkauf fiel zudem in eine Zeit, in der Räumlichkeiten für Vereine in Leipzig ohnehin stark umkämpft waren.20

Am 4. Dezember 1993 verabschiedete die LOPG eine Erklärung, in der sie einen Kampf um die Nutzung des Hauses anstrebte.21 Über die nächsten Jahre versuchten ihre Mitglieder das Thema in der Öffentlichkeit zu halten, zum Beispiel mit Artikeln im LOUISEum (Nummer 8), durch Auftritte in Fernsehbeiträgen und Aktionen vor Stadtratssitzungen.

Erklärung der LOP zum Henriette-Goldschmidt-Haus

Als 1995 die Pläne zum Abriss bekannt wurden, startete die LOPG eine Unterschriftenkampagne, die bundesweit von mehr als 2.000 Bürger*innen unterschrieben wurde.22 Der drohende Abriss stärkte auch die Vernetzung in Leipzig: Eine Initiativgruppe zur Rettung des Hauses wurde gegründet.23

Im Verlauf der Jahre entwickelte sich das Haus zu einem Treff-, Protest- und Vernetzungsort. Die Aktionen bezogen häufig symbolische Daten ein: Zum Beispiel wurden am 1. Juli, dem Jahrestag der Vertragsunterzeichnung zwischen Hinrichsen und der Stadt24 , im Garten Feste25 veranstaltet.

In Flyeraktionen richtete sich das Bündnis direkt an die Stadträt*innen Leipzigs. Dabei greift die Argumentation neben der Frauenbewegungsgeschichte Leipzigs auch die jüdische Geschichte des Hauses auf. So hieß es 1997: „Engagieren Sie sich für Lösungen, die das einmalige Zeugnis deutsch-jüdischer Kulturtradition bewahren. [...] setzen Sie sich für Pläne ein, die das Henriette-Goldschmidt-Haus den Frauen, der Stadt Leipzig, der Nachwelt erhalten.“26

Am 24. Februar 1999 verabschiedete der Stadtrat einen Bebauungsplan. Das Bündnis reagierte mit einer erneuten Postkartenaktion27 und gründete einen Verein28 : den Henriette-Goldschmidt-Haus Leipzig e.V. Dessen Vorsitzende Inge Brüx berichtete in der ZEIT vom ausgearbeiteten Nutzungskonzept und vom Finanzierungsplan. Sie sah eine Verbindung zwischen den Ideen Goldschmidts und der Situation von Frauen in Ostdeutschland: „Die Frauen in Ostdeutschland sind die größten Verlierer der Wende und brauchen Förderung und Ermutigung im Sinne von Henriette Goldschmidt“.29

Menschengruppe vorm Henriette-Goldschmidt-Haus, 1996-1999
Blumen vorm Henriette-Goldschmidt-Haus, 1996

Am Wochenende des 18./19. März 2000 wurde allem Protest zum Trotz das Haus letztlich abgerissen.30 2018 wurde ein neues Haus gebaut, welches die historische Fassade nachahmt, sonst aber nicht an die Nutzung anschließt.31

 

Stand: 15. April 2024
Verfasst von
Laura Peter

ist Projektmitarbeiterin der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. Sie interessiert sich u.a. für Frauen(bewegungs)geschichte in der Transformationszeit.

Empfohlene Zitierweise
Peter, Laura (2024): Kampf für den Erhalt des ‚Henriette-Goldschmidt-Hauses‘ (1993‒2000), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/kampf-fuer-den-erhalt-des-henriette-goldschmidt-hauses-1993-2000
Zuletzt besucht am: 13.05.2024

Fußnoten

  • 1Vgl. Kämmerer, Gerlinde: Goldschmidt, Henriette (geborene Benas), aufgerufen am 15.4.2024 unter: https://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/frauen/1000-jahre-leipzig-100-frauenportraets/detailseite-frauenportraets/projekt/goldschmidt-henriette-geborene-benas.
  • 2Vgl. Louise-Otto-Peters-Archiv: LOPA, V.4.5-02 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 2“, Bl. 38 v.
  • 3Vgl. Müller, Thomas: Gestiftetes Henriette-Goldschmidt-Haus: Die Stadt ist damit stiften gegangen. Städtische Stiftungs-Verwalter haben das Gebäude 1991 weit unter Wert verkauft, in: Leipziger Volkszeitung (LVZ), 8.9.1993, S. 13.; Vgl. LOPA, V.4.5-04 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 4“, Bl. 45–49.
  • 4Vgl. Urbach, Peter: Henri und Henriette in Leipzig, in: Das Blättchen, 2. Jg, Nr. 11, 31.05.1999, S. 23 f.
  • 5Vgl. Ebenda.
  • 6Vgl. T.M.: Bürgerstiftung Leipzig – wie sie entstand und was sie tut, in: LVZ, 08.09.1993, S. 13.
  • 7Vgl. LOPA, V.4.5-04, Bl. 64 v.
  • 8Vgl. ebenda, Bl. 65 r.
  • 9Vgl. Vgl. Müller: Gestiftetes Henriette-Goldschmidt-Haus, S. 13.
  • 10Vgl. T.M.: Henriette-Goldschmidt-Haus. Stadt könnte Streitobjekt zurückkaufen, in: LVZ, 11./12.09.1993, S. 11.
  • 11Vgl. LOPA, V.4.5-04, Bl. 15 v.
  • 12Ebenda, Bl. 58 v.
  • 13Vgl. Tappert, Andreas: Stadtverwaltung plant Abriß des Goldschmidt-Hauses. Nach umstrittenem Verkauf gibt es wieder Proteste, in: LVZ, 30.05.1995, S. 15.
  • 14Vgl. r.: Bebauungsplan rechtskräftig. Stadt hält an Ausbau der Ebertstraße fest, in: LVZ, 02.06.1999, S. 16.
  • 15Vgl. LOPA, V.4.5-06 „Verein „Henriette-Goldschmidt-Haus“ Leipzig e.V.“, Bl. 4 v.
  • 16Seyde, Petra: ... UND AUS DAS HAUS ... ?, in: Fraueninitiative Leipzig/ Unabhängiger Frauenverband e.V. (Hrsg.): Frauenblätter III/93, S. 4 f., hier: S. 5.
  • 17Ziegler, Marion: Wem hat das öffentliche Eigentum zu dienen?, in: ebenda, S. 5.
  • 18Vgl. ebenda.
  • 19Vgl. LOPA, V.4.5-02 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 2“, Bl. 1.
  • 20Vgl. Bock, Jessica: Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980-2000, Halle (Saale) 2020, S. 414 f.
  • 21Vgl. LOPA, V.4.5-05 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 5“, Bl. 1 v.
  • 22Vgl. LOPA, V.4.5-01 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 1“, Bl. 1v.
  • 23Vgl. Rundbrief der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft vom 22.04.1996, in: LOPA, V.2.1-03 „Schriftwechsel 1996“.
  • 24Vgl. LOPA, V.4.5-03 „Henriette-Goldschmidt-Haus, Bd. 3“, Bl. 57 v.
  • 25Vgl. LOPA, V.4.5-01, Bl. 20 v.
  • 26Vgl. LOPA, V.4.5-03, Bl. 58 v.
  • 27Vgl. Müller, Thomas: Neue Aktion zur Rettung des Goldschmidt-Hauses gestartet. Vereine wollen Abriß mit Protest-Postkarten verhindern / Regierungspräsidium um Hilfe gebeten, LVZ, 16.04.1999, S. 15.
  • 28Vgl. T.M.: Neuer Rettungsversuch. Förderverein für Goldschmidthaus vor Gründung, in: ebd., 22./23.05.1999, S. 15.
  • 29Jensen, Annette: Die Leipziger Frauenfrage. Der Kampf um das Henriette-Goldschmidt-Haus geht weiter, in: Die Zeit, 09.12.1999, S. 21.
  • 30Vgl. Richter, A.: Henriette-Goldschmidt-Haus und zwei Nachbargebäude abgerissen, in: Leipziger Volkszeitung, vom 20.03.2000, S. 15.
  • 31Vgl. Seidel, Mirko: Henriette-Goldschmidt-Haus Leipzig (Zentrum-West, Stadt Leipzig),abgerufen am 15.4.2024 unter: https://www.architektur-blicklicht.de/artikel/touren/henriette-goldschmidt-haus-leipzig/.

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