Raus aus dem Korsett

verfasst von
  • Dr. Birgit Kiupel
veröffentlicht 18. Januar 2021

Schilderungen des Deutschen Kaiserreichs betonen eine von Militarismus und Nationalstaatlichkeit geprägte Gesellschaft. So wurde der preußische König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser proklamiert, während der Deutsch-Französische Krieg tobte.

Zeit der Gegensätze

Frauen im Kaiserreich
Dr. Birgit Kiupel
Frauen fordern im Kaiserreich ihre Rechte, Zeichnung

Der Obrigkeitsstaat zelebrierte seine Macht mit Flottenbegeisterung und Großmannssucht. Geträumt wurde vom Deutschen Reich, einem ‚einigen großen Vaterland‘, kolonialistisch und antisemitisch, permanent begleitet von Armut und Klassenkämpfen. Letztere sollten durch die sogenannten Sozialistengesetze (1878–1890) gegen vermeintliche „Reichsfeinde“, zu denen auch die Sozialdemokratie gerechnet wurde, unterdrückt werden. Nur knapp 50 Jahre später setzte wieder ein Krieg eine Zäsur: 1918 endete der Erste Weltkrieg mit der Novemberrevolution, Abdankung des Kaisers und Ausrufung der Republik.

Die Zeit des Kaiserreichs birgt jedoch auch viele andere Erzählungen: Etwa vom Aufbruch in die Moderne, von bahnbrechenden Entwicklungen in Forschung, Wissenschaft und Industrie – dazu zählen Entdeckungen von Epidemie-Erregern der Cholera und Tuberkulose oder der Einsatz von Elektrizität im Haushalt – sowie von Kämpfen gegen Not und Ausbeutung. Und allgegenwärtig die sogenannte ‚Frauenfrage‘, die endlich Antworten auf antiquierte Geschlechterrollen und Frauenbilder forderte. 

Reformerinnen

Denn zeitgleich erstarkte die Frauenbewegung. Tragende Rollen spielten mutige und entschlossene Frauenrechtlerinnen wie Louise Otto-Peters, Helene Lange, Lida Gustava Heymann, Helene Stöcker, Hedwig Dohm, Alice Salomon.

Auch Kunst und Kultur boten Plattformen, auf denen etwa Probleme des Ehelebens oder Klassenfragen verhandelt wurden. Wagenradgroße Hüte, prächtige Roben, aber auch Reformkleidung ohne Korsett setzten selbstbewusste Weiblichkeit in Szene. Den Lebensstil dieser Gesellschaft ermöglichten Arbeiter*innen und Dienstbot*innen, die im Hintergrund wirkten.

Vielfältige Frauenbewegung

Protest der Arbeiterinnen
Dr. Birgit Kiupel
Protest der Arbeiterinnen, Zeichnung

Die ‚Frauenfrage‘ bewegte Frauen aller Klassen und Schichten: die Bürgerlichen, die bürgerlich Radikalen, die Sozialistinnen, die streikenden Arbeiterinnen. Manche Christinnen suchten das Bündnis mit Frauen jüdischer Herkunft, die ihrerseits an Reformen arbeiteten und die bürgerliche Frauenbewegung vielfältig prägten. Aber auch adlige Frauen wie Therese von Bayern oder Kaiserin Auguste Victoria förderten Reformansätze, etwa in der Mädchen- und Frauenbildung.

Sie alle waren von einer traditionellen patriarchalen Geschlechterordnung mit rigoroser Rollenzuweisung betroffen. Der Mann galt als der alleinige Ernährer, war zuständig für Öffentlichkeit, Politik und Herr über Frau und Familie. Im Innern hingegen sollte die züchtige Hausfrau und Mutter walten – und repräsentieren. Solche Ideale entsprachen jedoch kaum der Realität.

Antiquierte Rollenbilder

Frauen mussten seit Jahrhunderten zum Familienunterhalt beitragen, ob aus der Unterschicht oder dem bäuerlichen Milieu. Alleinerziehende oder alleinstehende Frauen hatten keine andere Wahl. Sie mussten sich im bürgerlichen Haushalt der Mittel- bzw. Oberschicht bei einem männlichen Verwandten in den spezifisch ‚weiblichen‘ Bereichen wie der Pflege oder Erziehung nützlich machen.

Diese geschlechtsspezifische Zuweisung und Bewertung der Arbeit ließ letztlich auch mehr Frauen als Männer verarmen. Denn sogenannte Frauenarbeit galt als selbstverständliche Hilfs- und Zuarbeit, die nur gering oder gar nicht entlohnt zu werden brauchte.

Dieses System wurde mittels einer Gesetzgebung verankert, die Frauen der Vormundschaft des Mannes unterwarf, ihre Sexualität reglementierte, ihren Körper – so Hedwig Richter in ihrem aktuellen DDF-Interview zum Thema – in den Dienst des ‚Volkskörpers‘ stellte.

Frauen im Pflegeberuf
Dr. Birgit Kiupel
Frauen im Pflegeberuf, Zeichnung

Rechtliche Verankerung

Ein wesentlicher Bestandteil dieser einschnürenden Gesetzeslage war der § 218. Dieser wurde 1871 im neuen Reichstrafgesetzbuch (RStGB) festgelegt und trat 1872 in Kraft. Bis heute wirkt der Paragraf im Strafgesetzbuch (StGB) fort und stellt damit eine wesentliche Einschränkung im Selbstbestimmungsrecht der Frauen dar.

Zwar bedeutete die Vereinheitlichung des Rechts im Kaiserreich einen Modernitätsschub, doch orientierte sie sich nicht an Forderungen zur Gleichberechtigung der Frau. Als 1900 nach langjährigen Beratungen auch die Neuregelungen des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in Kraft traten, musste die bürgerliche Frauenbewegung eine erneute Niederlage hinnehmen.

Trotz Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und Petitionen an den Deutschen Reichstag, 1896 als ‚Frauenlandsturm‘ diffamiert, blieben die Frauen der „eheherrlichen“ Vormundschaft unterworfen und wurden in die Hausfrauenehe gezwungen. In der Folge engagierten sich Frauen des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) für die Einrichtung von Rechtschutzstellen zur Beratung und Stärkung des Rechtsbewusstseins der Frauen.

Rolle der Kirche

Die ideologische Basis für diese rigiden Positionen zu Schwangerschaft und Abtreibung lieferten auch die Kirchen, die die Frauen im Dienst an Familie und Gesellschaft sahen. Doch auch in den Kirchen regte sich erster verhaltener Widerstand und Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, der 1899 zur Gründung des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEF) führte und 1903 zum Katholischen Frauenbund.

Bis heute sind fundamentalistische, kirchlich orientierte Haltungen einflussreich. So blockiert die katholische Kirche in Ländern wie Polen und Ungarn eine Reform der Gesetze zur Abtreibung.

Sozialer Wandel

Frauen fordern ihre Grundrechte ein
Dr. Birgit Kiupel
Im Kaiserreich müssen Frauen ihre Grundrechte erst erkämpfen, Zeichnung

Erst ab 1908 durften Frauen – 60 Jahre nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848, an der viele Frauen mitgewirkt haben – wieder offiziell an politischen Versammlungen teilnehmen oder sich in politischen Vereinen engagieren. Aber sie waren längst aktiv, prägten etwa die Sozialpolitik insbesondere in karitativen, erzieherischen und pflegerischen Vereinskulturen. Sie gründeten Zeitschriften, Bibliotheken, Beratungsstellen, vernetzten Stadt und Land und agierten auch international, kämpften gegen Mädchenhandel und für die Abschaffung staatlicher Reglementierung der Prostitution.

1913 sympathisierten Arbeiterinnen mit dem Gebärstreik, wollten über ihren Körper selbst bestimmen. Maßgeblich initiiert wurde dieser von sozialdemokratischen Ärzten und einzelnen SPD-Mitgliedern wie Alma Wartenberg. Doch die Parteispitze agitierte gegen den Streik, da für den Befreiungskampf die Massen gebraucht würden. So setzte Wartenberg ihre Aufklärungsarbeit für Mutterschutz und Geburtenkontrolle selbst gegen die eigenen Genoss*innen fort.

Auch in der bürgerlichen Frauenbewegung gab es Vorbehalte. Marie Stritt, die die Rechtskommission des BDF leitete und dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zugerechnet wird, bereitete für die BDF-Generalversammlung 1905 eine Entschließung zur Streichung des § 218 vor. Doch die Stimmenmehrheit wurde knapp verfehlt, da der konservative Deutsch-Evangelische Frauenbund kurz vor der Abstimmung dem BDF beigetraten war.

Frauen übernehmen im Kaiserreich auch die Betreuungsaufgaben, Zeichnung
Dr. Birgit Kiupel
Die Betreuungsaufgaben liegen auch im Kaiserreich bei den Frauen, Zeichnung

Emanzipation durch Bildung und Beruf

Zentral war der Kampf für Bildung und Berufsstätigkeit. So wurde Helene Langes legendäre gelbe Broschüre Die höhere Mädchenbildung und ihre Bestimmung 1887 einer Petition Berliner Frauen an das preußische Kultusministerium beigelegt und erregte Aufsehen. Sie forderte dass die Ausbildung an höheren Töchterschulen eine Station auf dem Weg zum Universitätsstudium werden solle.

1900 öffnete das Großherzogtum Baden als erster deutscher Bundesstaat offiziell die Universitäten für weibliche Studierende, das Schlusslicht bildete 1908 Preußen. Und kontinuierlich stieg die Erwerbstätigkeit von Frauen, etwa in Büros, als Verkäuferin oder Telefonistin. Die sonst ehrenamtlich von Frauen geleistete soziale Arbeit wurde professionalisiert, wie durch die Gründung sozialer Frauenschulen, 1908 in Berlin durch Alice Salomon

Meilenstein Frauenwahlrecht

Beharrlich und strategisch klug wurde an der selbstverständlichen Teilhabe von Frauen an Wissenschaft, Kultur und Politik gearbeitet. Ein Ziel war der lange und letztlich erfolgreiche Kampf um das Frauenwahlrecht. Wesentlichen Anteil daran hatten auch Künstlerinnen – wie Malerinnen, Literatinnen und Dramatikerinnen ohne Zugang zu akademischer Ausbildung und Studium.

Unerschütterlich war auch der Einsatz von Frauen für den Frieden, der sich in Bündnissen und großen medienwirksamen Kongressen organisierte – wie beim Internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag 1915. Doch auch zu Krieg und Frieden agierten Frauen nicht einheitlich. Groß war zum Beispiel der Einsatz vieler frauenbewegter und auch in der SPD-organisierter Frauen in der sogenannten Reservearmee an der Heimatfront. Die Mehrheit agierte patriotisch und systemkonform in Lazaretten und Kriegsküchen – aber auch in sogenannten Männerberufen und in der Rüstungsindustrie.

Männergesellschaft
Dr. Birgit Kiupel
Gerade Männer aus dem Bürgertum wehren sich gegen die Forderungen einer erstarkenden Frauenbewegung.
Emanzipation
Dr. Birgit Kiupel
Dennoch gelingt es dieser durch ihr beharrliches Engagement, mehr Rechte für Mädchen und Frauen zu erkämpfen.

Antifeminismus

Mit diesem langen Aufbruch und Abschütteln patriarchaler Traditionen wuchs auch der Antifeminismus, der diffamierend agierte, wie der Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, gegründet 1912. Nationalistisch und antisemitisch gesinnte Männer aus dem Bürgertum, darunter Lehrer und Professoren, versammelten sich hier im Kampf gegen das Frauenstimmrecht und weibliche Berufskonkurrenz.

Aber es gab auch Erfolge der damals bereits weltweit aktiven Frauenbewegungen. Unter anderem von Clara Zetkin und Käte Duncker initiiert, wurde nach einigen Anläufen 1911 auch im Deutschen Kaiserreich erstmals der Internationale Frauentag begangen. Noch heute wird dieser am 8. März gefeiert und setzt ein Zeichen für feministische Forderungen und Bewegungen.

150 Jahre nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs offenbart der Rückblick eine scheinbar eingeschnürte Gesellschaft voller Widersprüche. Manch ideologisches Korsett bleibt bis heute hochwirksam und Strukturen, Rechts- und Denknormen erkennbar. Das zeigen gerade der lange Kampf gegen den § 218 und die aktuellen Verschränkungen von Nationalismus, Antisemitismus und Antifeminismus. Doch auch die Frauenbewegung blickt auf eine lange Tradition, die heutige demokratische Bewegungen erst ermöglicht haben.

Weitere Informationen zum Thema bietet das Interview mit Prof. Dr. Hedwig Richter „Das Kaiserreich und die Frauenbewegung“ im DDF-Blog.

Mit dem Dossier „Der § 218 und die Frauenbewegung. Akteurinnen – Debatten – Kämpfe“ widmet sich das DDF in Interviews, Texten und Fundstücken aus den i.d.a.-Einrichtungen der wechselvollen Geschichte dieses zentralen Themas der Frauenbewegungen. Ab Mai 2021 im DDF.

Stand: 18. Januar 2021
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