„Neben dem Internationalen Frauentag brauchen wir den täglichen Kampf gegen das Patriarchat als System“

veröffentlicht 08. März 2021

Der Internationale Frauentag hat eine lange wie bewegte Tradition: 1910 wurde er beschlossen, 1911 erstmals durchgeführt, ab 1921 fand er regelmäßig am 8. März statt. Wird er heute teils zum Feiertag ausgerufen, steht dies jedoch im Widerspruch zu seiner widerständigen Geschichte als Streik- und Kampftag. Bis heute tragen feministische und frauenpolitische Akteur*innen und Organisationen ihre Forderungen auf die Straße, in die Medien und das Netz. Auch viele i.d.a.-Einrichtungen beteiligen sich wieder – in diesem Jahr vor allem online – mit Veranstaltungen und Aktionen

Und die aktuelle Situation zeigt es deutlich: Feministische Forderungen verlieren nicht an Notwendigkeit. Frauen sind bis heute am stärksten von Mehrfachdiskriminierungen betroffen. Sie arbeiten häufig in niedrig entlohnten Berufen, die für die gesellschaftliche Infrastruktur jedoch unverzichtbar sind. Parallel dazu tragen sie noch immer hauptsächlich die familiären Strukturen. Die Covid-19-Pandemie hat diese bestehenden Verhältnisse verfestigt, konstatiert die Soziologie-Professorin Jutta Allmendinger und warnt vor einer „Retraditionalisierung“[1] der Geschlechterrollen.

Zum Internationalen Frauentag fragt das Digitale Deutsche Frauenarchiv daher Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft und Kultur zum Status quo. Welche Themen sind heute aktuell – von guter Kinderbetreuung bis zu einem gewaltfreien und emanzipierten Leben? Wo stehen wir aus frauenpolitischer und feministischer Perspektive 2021 und was gilt es zum 8. März zu fordern?

Luise F. Pusch
Luise F. Pusch, Foto: Sabine Wunderlin

Luise F. Pusch, Sprachwissenschaftlerin:

„Die Frau ist nicht der Rede wert“ – das gilt seit gut einem Jahr nicht mehr so absolut wie zuvor. Der Duden will in seinen Definitionen den generischen Gebrauch des Maskulinums abschaffen. Im Radio, Fernsehen und in vielen Podcasts wird fleißig „gegendert“: Statt „Unter den Demonstranten waren viele Schüler“ hören wir jetzt eher „Unter den Demonstrierenden waren viele Schüler*innen“, wobei der Genderstern durch einen Knacklaut wiedergegeben wird, den ich schon 1985 als „Verlautbarung“ des Binnen-I vorgeschlagen hatte. Gegen die „Verhunzung der deutschen Sprache“ wird von Konservativen heftig protestiert. Es bleibt spannend.

Was fordern Sie zum Internationalen Frauentag?

Ich will, dass die Gewalt von Männern gegen Frauen endlich aufhört! Der Bundespräsident und die Kanzlerin verurteilen regelmäßig mit klaren Worten Extremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land. Mit genauso klaren Worten ist auch der allgegenwärtige Sexismus zu verurteilen. Gerade in Beziehungen erleben Frauen Gewalt – bis zu drei werden jede Woche von ihrem Partner ermordet. Dieser Frauenhass in Deutschland, in Europa und in aller Welt ist um ein Vielfaches todbringender als andere Hassverbrechen zusammengenommen. Ich will, dass der weltweite Femizid endlich wahr- und ernstgenommen und bekämpft wird!

Luise Pusch ist Sprachwissenschaftlerin, Autorin und Mitbegründerin der feministischen Sprachkritik in Deutschland. Mit der Datenbank FemBio leistet sie seit 1982 wichtige Pionierinnenarbeit zur Frauen-Biografieforschung.

Emilia Roig
Emilia Roig, Foto: Mohamed Badarne

Emilia Roig, Direktorin des Center for Intersectional Justice:

Die feministischen Themen sind die gleichen wie 2020. Noch immer geht es darum, überhaupt anzuerkennen, dass es feministische Forderungen in Deutschland gibt und die Rechte der Frauen und ihre gesellschaftliche Position weiterhin marginalisiert werden: in Politik, Kultur, Medien – auf allen Ebenen der Macht. In der Corona-Krise werden zudem die Probleme von Kinderbetreuung, Care und Gender Pay Gap sichtbarer. Es müssen daher Lösungen gefunden werden, die diese Ungleichbehandlungen nicht auf ‚Frauenprobleme‘ reduzieren. Betreuungsfragen sind ein gesellschaftliches Problem und betreffen auch Männer. Dabei müssen die Unterschiede zwischen den Frauen betrachtet werden, denn die Kategorie Frau ist sehr heterogen. Wir tendieren dazu, Frauen als deutsch, weiß, heterosexuell, mit Kindern und aus der Mittelschicht zu lesen. Aber es gibt auch Schwarze Frauen, Frauen of Color, Sintizze und Romnja, Frauen aus der Arbeiterklasse, Single-Frauen und natürlich queere Frauen, die mit ganz anderen Problemen konfrontiert sind. Hier verweise ich zum Beispiel auf die wichtige Kampagne nodoption zum Adoptionsrecht von lesbischen Paaren.

Was fordern Sie zum Internationalen Frauentag?

Wir müssen uns mit der globalen Hierarchie auseinandersetzen, welche dem Patriarchat zugrunde liegt und die alles, was als männlich konstruiert wird, höher platziert, als das, was als weiblich hergestellt wird. Diese Hierarchie wirkt überall, in den Medien, auf dem Arbeitsmarkt, in allen Diskursen und Darstellungen. Wir brauchen daher eine kollektive Bewusstwerdung dieser Hierarchie. Sie zu dekonstruieren, heißt, sie sichtbar zu machen und als Grundlage aller anderen Probleme zu verstehen. Gender Pay Gap, fehlende Selbstbestimmungsrechte oder Gewalt gegen Frauen dürfen nicht als einzelne, voneinander getrennte Probleme betrachtet werden. Sie sind alle miteinander verbunden. Daher brauchen wir mehr als einen Tag der Aufmerksamkeit. Neben dem Internationalen Frauentag brauchen wir den täglichen Kampf gegen das Patriarchat als System. Dabei müssen wir Frauen in ihrer Vielschichtigkeit und auch nicht-binäre Menschen mitdenken. Sie alle sind gleichsam vom Patriarchat betroffen. Nur so ist eine inklusive, tiefgreifende Bewegung möglich. Wenn wir vom Internationalen Frauentag sprechen und uns auf das Konzept Frau zentrieren, bleiben wir auf einer individuellen Ebene und verlieren die systemisch-historische, welche für eine wirkliche Veränderung sehr wichtig ist.

Emilia Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Im Februar erschien ihr Buch Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung (Aufbau Verlag, 2021) zu aktuellen Fragen von Intersektionalität und Gleichstellung.

Felicia Ewert
Felicia Ewert, Foto: Anne Koch

Felicia Ewert, Politikwissenschaftlerin:  

Grundsätzlich passiert viel Gutes und viele Menschen zeigen sich solidarisch, wenn es um feministische Anliegen wie gleiche Bezahlung von Frauen oder reproduktive Rechte geht. Gleichzeitig werden Stimmen sehr viel lauter, die die Existenzen von transgeschlechtlichen Menschen pathologisieren, einschränken oder auch ganz beenden wollen würden, wenn sie die Chance dazu bekämen. Dafür muss ich nicht erst nach Polen blicken, wo LGBT-freie Zonen ausgerufen wurden, oder Ungarn, wo in Zukunft Personenstandsänderungen verhindert und bestehende rückgängig gemacht werden. In Deutschland verstärkt sich dies aktuell mit dem angekündigten Selbstbestimmungsgesetz. Es soll die größten Kritikpunkte am sogenannten Transsexuellengesetz abschaffen. Damit ist auf viele Verbesserungen für Betroffene zu hoffen. Was dann in der Praxis davon ankommt, bleibt abzuwarten. Doch nutzen transfeindliche Personen die gesetzliche Veränderung auch, um transgeschlechtliche Personen weiterhin als ,bedrohlich‘ zu diffamieren – durch Medien, Institutionen, leider teils auch feministische. Solange also Transgeschlechtlichkeit noch immer als etwas ‚Fehlerhaftes‘ betrachtet wird, ist es schwierig zu sagen, wir würden wirklich gut dastehen. 

Was fordern Sie zum Internationalen Frauentag?

Ich würde den 8. März grundsätzlich gern den internationalen feministischen Tag nennen. Und das sage ich aus meiner Position als Frau heraus. Denn – auch wenn es mir ein sehr wichtiges Anliegen ist, möglichst häufig von Frauen zu sprechen – muss ich oft realisieren: Es geht um Menschen aller Geschlechter. Frausein sollte weniger eingeschränkt gedacht werden. Darüber kläre ich Menschen auf. Eine Forderung von mir an cisgeschlechtliche Menschen ist daher, sich häufiger zurückzunehmen, sich die eigenen geschlechtlichen Vorstellungen bewusster zu machen und zu fragen: Warum denke ich trans Personen als Nische, als eine Abweichung von Normalität? Warum begreife ich mich selbst als die Normalität und halte mein Geschlecht für echter oder wertvoller als das von trans Personen? Transfeindlichkeit und Cissexismus erfordern diese Auseinandersetzung mit sich selbst.

Felicia Ewert ist Autorin (u.a. Trans. Frau. Sein. Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung, edition assemblage, 2020) und Politikwissenschaftlerin. Als Netzaktivistin und Referentin gegen Transfeindlichkeit und Transmisogynie gestaltet sie intersektionale Diskurse on- und offline mit.

Sabine Balke Estremadoyro
Sabine Balke Estremadoyro, Foto: Tanja Schnitzler

Sabine Balke Estremadoyro, Geschäftsführerin des Digitalen Deutschen Frauenarchivs:

Ich beobachte mit Sorge, dass die Corona-Pandemie jede Form von Gewalt gegen Frauen verschärft. Dabei ist insbesondere die häusliche Gewalt nach wie vor eine der weltweit am stärksten verbreiteten Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt. Aber auch strukturelle und digitale Gewalt gegen Frauen*, zum Beispiel auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen haben rasant zugenommen. Umso wichtiger ist es, dass Frauen gestärkt und ihre Selbstbestimmungsrechte ausgebaut und nicht – wie wir es derzeit beispielhaft in Diskussionen um den § 218 und § 219a erleben – bedroht und eingeschränkt werden.

 

Was fordern Sie zum Internationalen Frauentag?

Weg mit den Strafrechtsparagrafen 218 und 219a! Jede Frau muss das Recht haben, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Wir wollen entscheiden, ob, wann und wo wir unsere Kinder zur Welt bringen wollen! Diese uralte Forderung der Frauenbewegungen ist auch im Jahr 2021 noch aktuell. Bereits mit dessen Inkrafttreten vor 150 Jahren forderten Frauen auch die Abschaffung des § 218. Es wird Zeit, dass wir dem nun nachkommen. Frauenfeindliche Gewalt – ob im Privaten, im Beruf oder im Netz – muss gestoppt werden. Dies kann nur gelingen, wenn wir die Geschlechter endlich vollständig gleichstellen und die herrschenden Geschlechtsrollenbilder hinterfragen.

Sabine Balke Estremadoyro* ist Vorstandsmitglied des i.d.a.-Dachverbands und Geschäftsführerin des Digitalen Deutschen Frauenarchivs. In ihrem Kommentar zum Internationalen Frauentag (März 2020) erinnerte sie u.a. an dessen Ost-West-Geschichte.

Bundesministerin Franziska Giffey
Bundesministerin Franziska Giffey, Foto: Jesco Denzel

Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Ohne Frauen läuft nichts – das hat auch die Pandemie deutlich gemacht. Frauen arbeiten häufig in systemrelevanten Berufen, ob als Krankenpflegerin oder Kassiererin im Supermarkt. Sie übernehmen den Großteil der Sorgearbeit in den Familien, viele müssen Homeoffice und Homeschooling stemmen. Wichtige frauenpolitische Themen meiner Arbeit sind daher die Aufwertung sozialer Berufe, die partnerschaftliche Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit sowie der Einsatz für Entgeltgleichheit und mehr Frauen in Führungspositionen. Darüber hinaus bleibt die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ein dringendes Anliegen – auch das hat die Pandemie leider gezeigt.

Was fordern Sie zum Internationalen Frauentag?            

Ein Motto für meine Arbeit ist: „Frauen können alles“ – das ist Fakt und Forderung zugleich. Wir brauchen eine gerechte Teilhabe von Frauen in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und in der Politik. Das Digitale Deutsche Frauenarchiv zeigt eindrucksvoll, wie Frauen bereits in der Vergangenheit für diese Ziele gekämpft haben.

Wir gründen in diesem Jahr die Bundesstiftung Gleichstellung. Sie soll Informationen bereitstellen, Ideen entwickeln und ein offenes Haus für Bürgerinnen und Bürger, Kommunen, Verbände und Unternehmen sein – damit wir mit einer partnerschaftlichen Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer in Deutschland vorankommen.

Franziska Giffey ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und war von 2015 bis 2018 Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Seit 2020 fördert das BMFSFJ das Digitale Deutsche Frauenarchiv institutionell.

Stand: 08. März 2021

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